Rede zur Jahreshauptversammlung 2023

Dr. Carsten Brosda

Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Senator der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg

Zur Person

Transkript, 1. Juni 2023

Vielen Dank für die eben erfolgten Hinweise zu den Aufgaben, die wir als Verband und als Theater zu erledigen haben. Es hilft ja durchaus immer auch noch mal, wenn man von außen gespiegelt bekommt, was wir an gesellschaftlichen Erwartungen zu bewegen und zu bewältigen haben. Das ist nicht unerheblich. Und es bewegt sich in einer ganz gefährlichen Mischung von vollständiger Über- und Unterforderung dessen, was Kunst kann. Und meistens passiert beides zeitgleich. Und wir erleben auch beide Mechanismen immer zeitgleich.

Wir erleben eine Situation, in der auf der einen Seite Kunst, gerne auch im politischen Raum, überhöht und auf einen Sockel gestellt wird. Dann wird in Reden gern darauf hingewiesen, dass sie ja so frei und so unangreifbar ist, dass man, nachdem man sie so beschworen hat, dann auch ganz wunderbar ignorieren kann, weil sie so hoch oben auf dem Sockel steht, dass sie einem im Alltag gar nicht mehr begegnet.

Und auf der anderen Seite wird Kunst dann, als Reparaturmasse für alle möglichen sozialen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Probleme verwendet, auf die die Kunst vielleicht hinweisen kann mit ihrem Programm, für die sie aber mitnichten Instrumente hätte, sie tatsächlich zu lösen. Also ich muss gestehen: Ich kann das Gerede von der Kultur und der Kunst als Kitt der Gesellschaft ehrlicherweise nicht mehr hören, weil es nicht die Aufgabe der Kunst ist, etwas zu kitten, sondern eine Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, was sie sozialpolitisch und ökonomisch zu bearbeiten hat.

Wir können Hinweisgeber sein, aber vom Theater zu verlangen, dass es das löst, was in Jahrhunderten von Schulpolitik, Sozialpolitik, Integrationspolitik schiefgelaufen ist, glaube ich, wird nicht gelingen. Aber natürlich sind wir ein Baustein in einem Setting, das unsere Gesellschaft überhaupt in die Lage versetzt, zu begreifen, wo sie Probleme hat und ihr so ermöglicht sich solchen Themenfeldern zuzuwenden. Wir haben gestern ja bei der Diskussion „Was ist Kunst?" lange über die Frage nach der Veränderbarkeit von Welt gesprochen und darüber, wie man sichtbar machen kann, dass die Welt veränderbar ist.

Dazu sind mit auch zwei Zahlen aus jüngeren Umfragen im Gedächtnis geblieben. Die eine Zahl ist noch gar nicht so alt, sie stammt aus der Befragung „Jugend in Deutschland" von Ende 2021: Befragt wurden 14- bis 29-Jährige und 56 Prozent von ihnen haben gesagt, dass sie lieber in der Vergangenheit leben würden, denn da hätte es weniger Krisen und Kriege und mehr Sicherheit und Beständigkeit gegeben. 56 Prozent der 18 bis 34-Jährigen, also nicht diejenigen, von denen man sagt, dass sie bereits eine Alters-Melancholie erreicht haben und die Vergangenheit per se für schön halten.

Stattdessen sind das diejenigen, die dieses „Damals" gar nicht kennen können aus eigenem Erleben, sondern nur aus Erzählungen einer Gesellschaft, die das Gefühl hat, dass es damals (wann auch immer) irgendwie weniger anstrengend und weniger kompliziert war. Das Damals, das wir nicht kennen, ist ein Fluchtpunkt, zu dem auch die Jüngeren wieder hinwollen. Und ich finde schon, dass wir uns als Gesellschaft mit der Frage auseinandersetzen müssen, was eigentlich los ist, wenn der Fluchtpunkt unseres Nachdenkens und des Träumens und des Sehnens von Menschen auch mit Blick auf ihr individuelles Leben nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit liegt.

Die zweite Zahl ist etwas älter. 2018 war die Umfrage, 2020 wurden die Zahlen veröffentlicht: In der letzten PISA-Studie sind 15jährige Schüler:innen gefragt worden, ob sie folgender Aussage zustimmen: „I can do something about the problems of the world." Im Durchschnitt haben rund 60 Prozent der Befragten in den OECD-Ländern diesem Satz zugestimmt. In Portugal, dem OECD-Spitzenreiter, waren es mehr als 74 Prozent, in Taiwan sogar über 80 Prozent. Und in Deutschland? Hier waren es so wenig Jugendliche wie nirgendwo sonst: Gerade einmal 40,9 Prozent glauben, dass sie etwas machen können, das die Probleme der Welt lindert. Diese Zahl ist dramatisch. In keinem Land der weltweiten Befragung haben weniger 15-Jährige gesagt, dass sie glauben, dass sie mit ihrem Handeln an der Welt etwas verändern können. Und ganz ehrlich: Das zeigt ein Problem auf, das nicht unmittelbar mit Theater zu tun hat. Mittelbar aber vielleicht schon, weil auch Theater vielleicht das Gefühl verstärkt, dass man kann gar nichts verändern kann. Und vielleicht war es ja früher doch besser? Viele haben das Gefühl, dass die letzten 15 Jahre eigentlich eine Abfolge von immer dichter aneinander auftretenden und immer stärker eskalierenden Krisen gewesen sind, die sich jetzt auch noch anfangen zu überlagern.

Und da reden wir noch gar nicht über die ultimative große Krise, wie wir es eigentlich hinbekommen, die Lebensbedingungen auf unserem Planeten so zu sichern, dass ein Überleben nicht nur der Gattung Mensch, sondern jeglicher Form von biologischem Leben auf der Erde gesichert ist. Abgesehen von irgendwelchen Amöben, die es dann vielleicht noch schaffen, unter diesen Bedingungen weiter zu existieren. Dann hat sich aber für ein paar Jahre erst mal die Frage der Kunst erledigt. Insofern glaube ich, haben wir schon eine Aufgabe, uns jetzt mit der Frage auseinanderzusetzen, was wir tun können.

Was machen Politikerinnen und Politiker, wenn sie über so was reden? Meist suchen sie irgendein Beispiel, anhand dessen sie sozusagen eine plausible Geschichte erzählen können. Die Geschichte, die ich meistens dann erzählt habe, ist die von Beppo Straßenkehrer aus „Momo". Und ich hadere zugleich mit dieser Geschichte, seit ich sie das erste Mal erzählt habe. Ich weiß nicht, wer sich an das Buch noch erinnert. Momo hat zwei beste Freunde. Der eine beste Freund ist Beppo, und Beppo muss täglich eine ewig lange Straße kehren, und sie fragt ihn: „Wie schaffst du das eigentlich?

Demotiviert dich das nicht? Das ist doch irgendwie endlos. Das ist doch gar nicht zu machen." Und er erklärt ihr, dass er gar nicht aufs Ende der Straße guckt, sondern einfach nur auf den nächsten Besenstrich guckt. Dann atmet er einmal tief ein und geht einen Schritt nach vorne. Dann setzt er den nächsten Besenstrich und atmet tief ein. Ein Schritt nach vorne, macht den nächsten Schritt und am Abend ist die Straße fertig. Und weil er nicht aufs Ende geguckt hat, ist er auch nicht zwischendurch darüber verzweifelt, dass das Ende der Straße so weit weg ist. Das ist eine super Story, solange ich weiß, wie die Straße verläuft und wo das Ende der Straße ist. Das ist aber eine hochproblematische Story in einer Situation, in der das schlicht nicht mehr gegeben ist.

Und wir leben in Zeiten, in denen ich nicht mehr weiß, wo lang die Straße läuft. Das heißt, es besteht die große Gefahr, dass, wenn ich mit der Methode von Beppo Straßenkehrer versuche, meine Probleme zu lösen, am Ende nicht an dem Ziel ankomme, das ich eigentlich angestrebt habe. Man könnte Beppos Handeln auch als pragmatische Politik bezeichnen, Helmut Schmidt würde es ordentliches Regieren nennen.

Momo hat einen weiteren Freund: Gigi. Über den reden Politiker nicht. Dafür gibt es auch einen Grund, denn Gigi erinnert, wenn man von ihm erzählt, sehr an Donald Trump. Gigi ist Fremdenführer, also eigentlich ist er alles, er ist der Hallodri im Dorf. Aber sein Geld verdient er damit, dass er, wenn Leute fremd in die Stadt kommen, genau das macht, was der Oberbürgermeister eben nicht gemacht hat. Er nimmt die Leute nämlich an der Hand und erzählt ihnen die wildesten Geschichten über die Stadt. Und dann sagen die immer: „Ja, aber das steht doch gar nicht in meinem Reiseführer. Das stimmt doch gar nicht." Und Gigi antwortet: „Aber ist doch egal, die Geschichte ist doch gut. Besser als die im Reiseführer auf jeden Fall, wo ist das Problem? Und wer sagt euch denn, dass eure Geschichte in dem Buch stimmt? Die kann doch auch falsch sein. Nur weil sie da gedruckt ist, muss sie doch nicht stimmen." Dieser politische Typus kommt einem bekannt vor und der ist in der Politik auch hochproblematisch, weil Politik nicht so tun kann als ob, sondern Politik muss sich um das kümmern, was ist.

Aber diese Suche nach der schöneren Geschichte ist natürlich genau etwas, wonach wir durchaus gesellschaftlich ein Bedürfnis haben und wo durchaus sich eine Lücke öffnet, in die die Kunst hinein kann, in dem Wissen, dass das ein Raum ist, dessen Spielbedingungen grundsätzlich das Als-ob ist. Es geht ja nicht darum, zu sagen, wie es ist, sondern es geht darum, zu spekulieren, zu imaginieren. Und das Publikum weiß: Hier werden keine Doku-Dramen aufgeführt, hier gibt es nicht den Authentizitätsanspruch der 1:1-Reproduktion von Wirklichkeit. Und darin steckt eine Kraft, eine Dimension von Beschäftigung, der wir uns, glaube ich, stärker wieder zuwenden müssen. Angesichts einer Gesellschaft, in der wir feststellen müssen, dass schon die jungen Leute sich nach der Vergangenheit sehnen und nicht mehr nur die alten. Und dann können wir uns da an der Stelle vielleicht auch ein bisschen daranmachen, neue Perspektive und ein wenig Kreativität einzubringen.

Wie schaffen wir es, die Widersprüche unserer Gegenwart auszuhalten? Die Alternativen gibt es ja auch, und die erleben wir ja auch allerorten, gerade in der Öffentlichkeit. Es gibt immer diejenigen, die als Vereinfachungsmechanismus in der Gesellschaft anbieten, zu sagen: „Es geht nur darum, was du willst und darum, dass Gesellschaft so funktioniert, dass du alles machen kannst, was du willst. Es ist völlig egal, was die Gesellschaft will. Deine eigene individuelle Freiheit darf nicht beschränkt werden." Und dann wird die zaghafte Bitte, eine Maske zu tragen, während einer globalen Pandemie, auf einmal zur „Freiheitsbeschränkung". Da wird ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen zur „Freiheitsbeschränkung". Dann wird es irgendwann absurd. Und der Begriff der Freiheit verliert völlig seine innere Konnotation, weil Freiheit etwas ist, was in Räumen wie diesem verhandelt worden ist. Wir feiern in diesem Jahr 175 Jahre 1848, was in diesem Landstrich durchaus noch mal relevanter ist als in anderen, weil viele der liberalen und demokratischen Revolutionsbewegungen damals genau hier stattgefunden haben.

Und die haben in solchen Orten wie diesem hier stattgefunden oder bei den Banketten, die die Fürsten versucht haben zu verbieten. Und dann ist man eben auf die Straße gegangen, weil man nicht mehr zusammen essen durfte. Aber die sind nicht entstanden, weil einer alleine in seiner Kammer saß und dachte „Ich möchte jetzt mal sagen können, wie es ist", sondern das war schon etwas, was man miteinander wollte. Dieses Potenzial des Miteinanders zu entdecken ist entscheidend. Im Kern ist dieser Impuls extrem vormodern, weil er ja sagt: „Eigentlich sind wir alle auf uns selbst gestellt. Wir sollten, wie im Naturzustand vor der Gründung von Gesellschaften, wieder aufeinander einschlagen und der Stärkste gewinnt."

Der zweite Vereinfachungsmechanismus, den wir gerade erleben, ist Moralisierung, also sozusagen das Festlegen von etwas, was wahr ist, bevor wir miteinander ins Gespräch gegangen sind. Auch das ist ein Problem, und zunehmend erleben wir das rund um die Kunst und rund um die Möglichkeiten, tatsächlich Dinge anzusprechen, um dann im Gespräch gemeinsam herauszufinden, ob sie richtig oder falsch sind. Wir haben immer häufiger Zutrittsbedingungen zum gesellschaftlichen Gespräch, zum künstlerischen Dialog, also das eigentlich schon vorher feststehen muss, ob etwas stimmt oder nicht. Das ist eine Perversion des Modus, wie wir eigentlich gesellschaftlich miteinander Dinge, die wir verhandeln wollen, auch verhandeln können. Und es gibt einen wunderbaren Satz, der mit zu dem Zuversichtlichsten gehört, was ich je gehört oder gelesen habe. Dieser Satz steht in Jan Philipp Reemtsmas großem Buch über Vertrauen und Gewalt, seiner großen Studie über die Gewaltgeschichte der Moderne. Da kommt er ganz zum Schluss auf den Zauberberg zu sprechen. Der eine oder andere erinnert sich vielleicht: 1200 Seiten mit endlosen Spaziergängen durchs Gebirge. Da gibt es diesen jungen Hans Castorp, diesen unbedarften Ingenieur und diesen schwärmerischen Settembrini, diesen Aufklärer, der auf ihn einredet. Und irgendwann kommt dieser Zyniker Naphta dazu, der erklärt: „Ist doch alles Quatsch, stimmt doch gar nicht. Jetzt lass diesen Unsinn mit der Aufklärung doch mal. Es ist Krieg!" Und Naphta und Settembrini reden und streiten sich und reden und reden. Und Reemtsma schreibt den wunderbaren Satz: „Dass Naphta mitdiskutierte, gab Settembrini recht." Das heißt, derjenige, der gesagt hat „Du hast nicht recht, das mit der Aufklärung bringt nichts", steigt ein in den Mechanismus der Verständigung über das Gespräch und über die Aufklärung.

Das heißt, er widerspricht seiner eigenen Aussage durch sein Handeln in dieser Situation. Am Ende duellieren sie sich zwar trotzdem, das geht dann auch furchtbar schief. Aber dieser Moment - derjenige, der gegen die Errungenschaften der Aufklärung argumentiert, nutzt sie dennoch in seiner Kritik, ist eigentlich ein unfassbar zuversichtlicher Moment, weil er zeigt, dass das der Modus ist, in dem wir uns als Gesellschaft im Großen und Ganzen immer noch verständigen. Natürlich gibt es diejenigen, die ausbrechen, und ob wir die erreichen, weiß ich nicht. Aber es sind viel weniger, als wir uns manchmal einreden.

Und die Aufregung in den gesellschaftlichen Debatten um die Art und Weise, wie wir uns organisieren, auch wie wir gesellschaftlich versuchen, die Themen, die uns bewegen, miteinander wieder auf den Punkt zu bringen, haben etwas damit zu tun, dass wir in Gespräche einsteigen, in denen wir erst mal davon ausgehen, dass der andere auch Recht haben könnte und in der wir uns eines Modus befleißigen, der da lautet: „Ich bringe Argumente vor für das, was ich sagen möchte." Und ich glaube daran, dass dieses Miteinandersprechen tatsächlich einen gesellschaftlichen Unterschied machen kann.

Wir hatten gestern in der Diskussion die Frage „Wie war das denn damals mit Bebel, der sich mit Bismarck immer getroffen hat, obwohl die quasi unterschiedlicher nicht sein konnten?" Schon Lassalle hat vor Bebel gesagt: „Aussprechen, was ist. Das ist der Beginn jeder politischen Aktion." Und die beiden sind davon ausgegangen, dass das gegenseitige Aussprechen in einem zivilisierten Austausch miteinander möglich ist. Das setzt aber voraus, dass beide der Meinung sind, dass das geht. In dem Moment, in dem das einer nicht mehr macht, ist das schwierig mit diesem Austausch.

Insofern geht auch der Austausch in unseren Häusern nur, wenn beide oder alle in der Lage sind, diese Unterstellung zu treffen. Das Problem ist: Nur aussprechen, was ist, reicht heutzutage nicht mehr. Es kommt sofort die berechtigte Frage: Warum ist das denn so? Und jetzt kommt die dritte Frage: Könnte es auch ganz anders sein? Und ich glaube, erst in Dreiklang dieser Fragen sind wir in der Lage, kulturelle und künstlerische Programme zu entwerfen. Was ist? Warum ist das so? Und könnte es anders sein? Wenn wir diesen Dreiklang in unserem Programm bewegen, dann haben wir unter Umständen auch die Chance, die zuversichtlichen Möglichkeitsräume, von denen gestern die Rede war, noch mal neu zu öffnen, um gemeinsam miteinander einer Gesellschaft Angebote dafür zu machen, sich miteinander und mit uns und in unseren Häusern wiederum miteinander zu beschäftigen.

Und das ist unser Angebot, das Kulturhäuser wie Theater machen können. Sie bieten offene Räume, in denen Menschen nicht durch Rollen festgelegt, tatsächlich einander begegnen können, um das miteinander auszuhandeln, was von öffentlichem Belang ist. Und dann ist es in der Tat wichtig, dass sich dann auch die Vielfalt der Gesellschaft in diesen Häusern befindet und nicht nur diejenigen, die sich repräsentativ für die Vielfalt halten, aber am Ende nur einen Teil dieser Vielfalt wirklich repräsentieren. Eine große Aufgabe, vor der wir stehen. Und das führt mich dann unmittelbar zu den Themen, die wir jetzt im Laufe der nächsten anderthalb Tage noch miteinander bewegen werden.

Nämlich getreu nach Adorno: „Wer Kultur sagt, sagt immer auch Verwaltung, ob er will oder nicht." Das Ganze hat natürlich was damit zu tun, dass wir uns mit der Organisationsform Theater beschäftigen müssen, dass wir uns fragen müssen: Was heißt das denn für die Institution? Wie verteidigen wir die Institution in Zeiten, in denen die Ressourcen knapper werden, die die Institutionen aber brauchen, um klarzukommen? Wie stellen wir sicher, dass der Sinn unserer Institution so erkannt wird, dass wir in den Ressourcen-Diskussionen, die wir unweigerlich führen werden, auf eine Gesellschaft und auf eine Politik treffen, die sagen „Ja, das ist relevant, das will ich behalten." Das ist nicht ohne, das ist auch nicht mehr selbstverständlich der Fall.

Ich bin dankbar, dass wir hier politische Vertreter:innen haben, die das so sehen. Aber wir werden auch in Diskussionen erleben, wo die Frage gestellt wird, ob das wirklich noch notwendig ist. Ich komme aus Gelsenkirchen. Die Diskussionen über das Musiktheater im Revier, mit denen bin ich groß geworden. Und die zugespitzte Frage „Überlebt das Schwimmbad oder das Musiktheater?" Fragen, die jahrelang jede Haushaltsaufstellung in einer Transformationsstadt bewegt haben. Das Theater steht noch, das Schwimmbad ist weg. Auch das ist ein Problem der Stadtgesellschaft, weil nicht wenige finden, dass das Schwimmbad wichtiger war. Also insofern, da haben wir eine Aufgabe zu lösen miteinander, dass wir auch diese 91 %, die die Bertelsmann Studie zitiert, die sagt, wir finden das wichtig, was ihr macht, auch in die Häuser zu bekommen, damit sie auch dann erzählen können, warum das wichtig ist. Und nicht nur glauben, dass das wichtig ist, was früher mal wichtig war.

Auch da mag nämlich wieder die Nostalgie, die ich vorhin beschworen habe, eine Rolle spielen. Wir müssen uns darum kümmern, wenn wir über Fachkräfte reden. Fachkräfte kommen nur, wenn ich gute Arbeitsbedingungen organisiere. Und wir sind in einer Situation, in der sich Fachkräfte künftig ihre Arbeitgeber aussuchen können und nicht mehr umgekehrt. Das heißt auch, dass wir uns anders darum kümmern müssen, selber attraktiv zu sein für Menschen, die arbeiten wollen bei uns und die kreativ arbeiten wollen, die Lust haben, etwas Sinnstiftendes zu tun.

Wir haben ein großartiges Arbeitsangebot zu machen. Wir müssen nur mal etwas selbstbewusster darüber sprechen und uns ein bisschen abgewöhnen, auf das herrschende Narrativ einzuschwenken, dass es eigentlich keinen schlimmeren und menschenrechtsverletzenden Ort des Arbeitens geben kann als eine deutsche Bühne. Das ist nämlich ganz, ganz grober Unfug. Und diesen groben Unfug muss man vielleicht auch mal als das benennen, was er ist. Es geht letztlich darum, dass wir uns um die großen Themen, in die sich so Theater einfügen, gesellschaftlich auch kümmern, wie wir es hinbekommen, dass wir nachhaltiger produzieren, wie wir es hinbekommen, dass wir mit den digitalen Technologien und der sich verändernden Öffentlichkeit klarkommen.

Riesenthemen, die aber alle was damit zu tun haben, dass wir das, was ich am Anfang beschrieben habe, nämlich die Fähigkeit zur Spekulation darüber, wie es noch sein könnte, überhaupt für eine Gesellschaft bereitstellen und ermöglichen können, damit diese Gesellschaft die Zuversicht bewahrt, dass es anders sein könnte, als es jetzt ist. Weil ich mir schlechterdings nicht vorstellen kann, dass es wirklich Menschen gibt, die der Meinung sind, dass es so wie es derzeit ist, gut ist. Und in diesem Sinne hoffe ich, dass wir in ernsthafte Diskussion darüber gehen, wie wir das hinbekommen, wie wir unseren Beitrag dazu leisten können, wie wir dafür sorgen, dass wir uns weder aufs Podest gestellt fühlen noch zur Klebemasse einer auseinanderdriftenden Gesellschaft werden, sondern tatsächlich ein produktiver Resonanzraum für die Themen der Gesellschaft und ein Ort, an dem man einfach mal darüber nachdenken kann, wie es denn noch gehen könnte.

Eine der schönsten einfachen Lebensweisheiten, die ich je gehört habe, kommt von einem fast 100 Jahre alten Gewerkschafter: Karl Richter. Der ist gefragt worden, wie er es denn geschafft hat, so alt zu werden und so fröhlich zu bleiben. Er hat gesagt: „Du musst das Leben nehmen, wie es ist, aber du darfst es nicht so lassen." Und vielleicht sollten wir uns diesem Gedanken auch mal zuwenden, wenn wir uns um die Bühnen und die Theater, um die Orchester in diesem Land kümmern. Sie also so zu nehmen, wie sie sind. Aber lassen Sie uns sie nicht so lassen. Lassen Sie sie uns besser machen. Ich wünsche uns gute Beratung. Schönen Dank.

 

 

 

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