Dr. Carsten Brosda
Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg
Biografie
Sehr geehrter, lieber Uli Khuon,
sehr geehrter Herr Grandmontagne,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bühnenvereins,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
erst einmal möchte ich mich für Ihr Vertrauen bedanken. In diesem Jahr haben wir viel über ungewöhnliche Wahlgänge gesprochen. Für mich war die Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins wohl der ungewöhnlichste Wahlzusammenhang, den ich in meinem Leben erlebt habe, denn ich bin hier bisher nicht so präsent gewesen.
Die Stadt Hamburg wurde in den letzten Jahren so vortrefflich durch Heiner Betghe vertreten - und wird auch weiter vertreten - dass ich mir zuerst gedacht habe: das mache ich jetzt mal nicht, sondern kommuniziere weiterhin über und mit Heiner Bethge.
Das bedeutet wiederum, dass wohl viele von Ihnen kein genaues Bild davon hatten, wer der eigentlich ist, den man gebeten hat, die Präsidentschaft zu übernehmen. Dann trotzdem ein solches Ergebnis und eine solche Zustimmung in diesem virtuellen Zusammenhang zu bekommen, ist etwas, für das ich mich herzlich bei Ihnen bedanken möchte. Ich weiß wohl, dass es auch ein Vertrauensvorschuss ist. Insofern möchte ich mich als zweites bei Uli Khuon bedanken, der irgendwann angerufen hat, und auch bei den anderen, die vorher gefragt haben, ob ich mir das vorstellen könne. Ehrlich gesagt habe ich mir ein bisschen Bedenkzeit erbeten, im Ergebnis: Ich konnte mir das vorstellen.
Es ist wichtig, Politik oder die Rechtsträger und die künstlerische Dimension des Kulturbetriebs näher zusammen zu bringen, denn wir müssen aufpassen, dass nicht aus reizvollen Spannungsverhältnissen Bruchkanten entstehen. Das ist etwas, das mich im letzten halben Jahr sehr beschäftigt hat. Es ist an der einen oder anderen Stelle - und sicherlich am markantesten in den Oktober-Beschlüssen zum neuerlichen Lockdown - sehr deutlich geworden, dass wir es mit Themen zu tun haben, die wir anders miteinander besprechen müssen.
Ich bin daher sehr dankbar für das Vertrauen. Wir haben im Vorwege viel darüber gesprochen, was es eigentlich heißt, wenn jemand dieses Amt antritt, der nicht aus der Institution heraus spricht - also quasi völlig unverstellt das Interesse eines Theaters vertreten kann -, sondern immer auch aus einer etwas abstrakteren, kulturpolitischeren Sicht sprechen muss, weil man den Teil des Kultursenator-Seins nicht komplett an der Garderobe abgeben kann. Als Kultursenator bin ich auch für andere Bereiche des kulturellen Lebens verantwortlich und muss mitunter auch Entscheidungen treffen, die ich dann mit dem anderen Hut auf dem Kopf auch kritisieren muss. Aber da ich das jetzt auch schon gemacht habe, ohne den anderen Hut aufzuhaben, bin ich sehr zuversichtlich, dass das gutgehen wird.
Zuversichtlich bin ich auch aufgrund des großartigen Teams des Deutschen Bühnenvereins. Wir können und sollten also mit verteilten Rollen spielen, um die verschiedenen Perspektiven und Facetten, die wir im Bühnenverein haben, entsprechend miteinander zum Ausdruck zu bringen.
Vor uns liegt eine große Aufgabe - zum einen aufgrund von Corona. Ebenso wie Uli Khuon und Marc Grandmontagne macht mich die Diskussion um die Systemrelevanz der Kultur immer kirre. Systemrelevant bedeutet das Erfüllen einer Funktion innerhalb eines systemischen Getriebes. Aber Kultur ist etwas ganz anderes. Kultur muss nach Relevanz in einem viel umfassenderen Sinne streben, weil sie am Ende die Vereinbarungen, die Wertvorstellungen und die Sinnbezüge einer Gesellschaft umfasst, auf deren Grundlage dann andere ein System bauen können. Eine Bank ist systemrelevant, weil sie die Geldmenge reguliert, aber selbst, wenn ich sagen würde, Theater regulieren den Sinnhaushalt einer Gesellschaft, wäre das immer noch zu kurz gegriffen. Es ist noch viel tiefgreifender und fundamentaler. Wir sollten uns in der Kultur daher nicht, nur weil der Begriff gerade in der Politik debattiert wird, auf diesen verengen.
Am Ende geht es um Sinn- und Erkenntniszusammenhänge unserer Gesellschaft und um weit mehr als Freizeit. Es ist völlig in Ordnung, wenn Theater unterhalten. Ich freue mich unfassbar, wenn das im Konzert oder auf der Bühne passiert, aber durch die Unterhaltung passiert auch noch Zusätzliches. Durch die Unterhaltung erschließen wir uns die Fragen nach dem Zusammenhang unseres Zusammenlebens. Und diese Dimension zu reklamieren und erfahrbar zu machen, ist wichtig und wertvoll. Deswegen ist es auch so entscheidend, dass wir die Signale dafür setzen, wie wir mit den Orten, an denen diese Erfahrungen gesellschaftlich gemacht werden können, künftig umgehen und wie wir sie wieder öffnen.
Viele spannende Dinge sind in den letzten Monaten im Digitalen entstanden und das halte ich auch für wichtig. Hier geht es um eine Verbreiterung der Ansprachemöglichkeiten. Aber ich glaube, alle haben über den Sommer erlebt, wie stark die auratische Wirkung physischer Orte ist. Dieses Gefühl war neu, denn diese Orte waren ja zuvor nie verschlossen. Nach dem Shutdown war es das erste Mal, dass man nach so langer Zeit wieder an konkrete Orte kommen und wieder physisch Kultur erlebenkonnte. Ich finde es unglaublich bemerkenswert, was das mit dem Publikum und den Menschen gemacht hat, die das erste Mal seit Monaten wieder in einem Konzert, einem Tanztheaterstück, in einer Oper oder einem Theaterstück gewesen sind. Auf diese Erkenntnis können wir aufbauen.
Aktuell sprechen wir viel darüber, dass die Kultur eine Lobby brauche. Ich fühle mich dabei an eine Geschichte erinnert, die der britische Dramatiker Simon Stephens vor ungefähr zwei Jahren erzählt hat, als wir in Hamburg das 175. Jubiläum des Thalia Theaters gefeiert haben. Stephens berichtete damals die Geschichte vom Höhepunkt der Brexit-Auseinandersetzungen in England. Er verfolgte eine Sendung mit Nigel Farage. Farage wurde von der BBC-Moderatorin mit ganz vielen Ökonomen konfrontiert, die statistisch nachgewiesen haben, dass der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union für die Volkswirtschaft Großbritanniens eine Katastrophe werden würde. Nigel Farage reagierte mit dem Worten Oh, don't you think we've had enough of these experts?
Simon Stephens berichtete, er sei außer sich gewesen, wie man so anti-aufklärerisch durch die Gegend rennen und sagen könne, einen interessierten diese Wissenschaftler und diese Experten alle gar nicht. Er ging dann in die Küche, traf dort seinen 16 Jahre alten Sohn und kübelte ihm seine gesamte Empörung über das, was er gerade im Fernsehen gesehen hatte, vor die Füße. Und der Sohn schaute ihn an und sagte: Aber Papa, der hat doch Recht. Da war Stephens völlig fertig und fragte ihn, wieso er denn Recht habe. Darauf sein Sohn: Na ja, stell dir mal vor, da wären jetzt in dieser Sendung ganz viele Wissenschaftler gewesen, die vorgerechnet hätten, dass es sich lohnen würde, für Großbritannien aus der Europäischen Union auszutreten. Wärst du dann auf einmal für den Brexit gewesen, wo du doch so gegen den Brexit bist? Er sagte, das sei er natürlich nicht. Und der Sohn sagte: Siehste!
Es geht gar nicht nur um die Fakten in ihrer dürren Form, sondern um die Erkenntnis: You need to tell your story better. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Manchmal vertrauen wir zu sehr darauf, dass es ja faktenorientiert schon klar sei, wie wichtig, wie relevant und wie wertvoll wir sind - wir können das schließlich begründen. Aber die entscheidende Frage ist: Können wir das auch erzählen? Können wir das in einer Art und Weise erlebbar und erfahrbar machen, in der es viel intuitiver ist und auch viel mehr nur über das Berechnen und Begründen, warum man relevant ist, hinausgeht.
We need to tell our stories better. Wahrscheinlich gibt es keine gesellschaftliche Institution, die so sehr darauf vorbereitet ist, Stories zu erzählen, Narrationen als Sinnzusammenhänge anzubieten, wie die Theater. Und in unserer jetzigen gesellschaftlichen Situation besteht zum einen mit Blick auf uns selbst und zum anderen mit Blick auf die kulturellen Auseinandersetzungen - wie den Umgang mit Diversität und Vielfalt in unserer Gesellschaft - eine große Notwendigkeit, solche Narrationen und solche Angebote auch in die Gesellschaft hinein zu entwickeln.
Darin sehe ich einen wesentlichen Punkt, aus dem heraus wir die Relevanz von kulturellen Orten abstrakt, und von Theatern im Spezifischen, noch einmal bedeutsam hervorheben können. Einmal, weil es der Gesellschaft hilft, und zum anderen, weil es damit auch die Relevanz der Bühnen erzählbar macht, ohne bloß behaupten zu müssen, relevant zu sein. Weil sie einfach vorleben, dass sie es sind - in der Art und Weise, wie sie Geschichten und Gesellschaft erzählen. Ich habe große Lust, genau an diesem Angebot zu arbeiten.
Kulturpolitik bedeutet immer ein bisschen Übersetzungsarbeit: Man erklärt der Kultur wie Politik funktioniert und noch häufiger der Politik, wie Kultur funktioniert. Und genau das wird sicher noch zunehmen, wenn man quasi in beiden Welten mit einem Bein steht. Aber ich denke, das können wir auch für einen Brückenschlag gut gebrauchen und ich möchte mit allen im Bühnenverein daran arbeiten. Ich stimme Uli Khuon zu: Wir müssen uns darum kümmern, eine Lobby in einem guten Sinne nach außen zu sein.
Eine Lobby macht kein anderer Verein für einen, man muss sie selbst organisieren und selbst vertreten. Man muss selbst seine Story erzählen können. Das sollten wir im Verbund mit all den anderen, die auch an den kulturellen Sinnzusammenhängen und -bezügen in unserer Gesellschaft arbeiten, solidarisch tun und uns auch entsprechend einbringen. Auf diese Arbeit „nach innen" freue ich mich sehr.
Vor uns liegen große Herausforderungen: Wie schaffen wir es, die Häuser, die Ensembles und die Institutionen für mehr Diversität zu öffnen? Wie gehen wir mit veränderten betrieblichen Anforderungen und wie mit tariflichen Fragen um? Wie gehen wir mit den Anforderungen eines geänderten und intensivierten ökologischen Bewusstseins im Rahmen des Klimawandels um? All das sind Themen, die sich an uns richten und die auch die Art und Weise, wie wir arbeiten verändern werden.
Heute Morgen fiel hier der schöne Satz, Theater seien agile Systeme oder sollten agile Systeme sein. Ich glaube, das ist etwas, dem wir nochmal nachschmecken sollten, was das eigentlich heißen kann und was wir tun können, damit wir am Ende adaptionsfähiger hinsichtlich sich verändernder Rahmenbedingungen sein können.Das Entscheidende ist, dass wir durch Corona aktuell mit einengenden Rahmenbedingungen umgehen müssen - und wahrscheinlich aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen auch perspektivisch werden umgehen müssen. Es geht darum, diesen Rahmenbedingungen zu arbeiten und sie nicht nur als eine „externe Beleidigung" der eigentlichen Ansprüche, sich selber entfalten zu können, zu begreifen, sondern auch zu überlegen, wie man das eigentlich miteinander hinbekommt, trotzdem für die Gesellschaft relevant zu bleiben. Die Frage nach den finanziellen Handlungsräumen wird in den nächsten Jahren zentral bleiben, auch für den Bühnenverein. Auch sie wird damit zu tun haben, wie wir unsere Relevanz eigentlich erzählen können. Denn wenn wir sie erzählen können, wird es denjenigen, die darüber nachdenken, wo sie gerade Geld einsparen, um die Folgen der Krise zu bewältigen, umso schwerer fallen, es an dieser Stelle zu tun.
Wer heute die Süddeutsche Zeitung gelesen hat, hat eine Vorstellung davon bekommen, was uns da gerade in den nächsten Jahren drohen wird und wie wir damit umgehen müssen. Insofern will ich dabei helfen, dass wir unsere Stories entwickeln, unsere Stories besser erzählen und miteinander dauerhaft im Gespräch bleiben.
Jürgen Habermas hat einmal gesagt, die Vernunft liege in der Vielheit ihrer Stimmen. Er meinte damit, dass keiner in einer Bevölkerung, einer Gesellschaft oder auch nur einem Verein die Vernunft allein besitzt. Man muss sie im Gespräch miteinander entdecken, weil sie im Wortsinn zwischen uns liegt und gemeinsam entwickelt werden muss.
Dieses gemeinsame Entwickeln der Vernunft ist etwas, das wir einer Gesellschaft, die das zunehmend verlernt, vormachen können. Ich freue mich darauf, genau das zu tun. Und wenn ich schon bei Habermas bin, dann will ich mit Adorno schließen: Adorno hat in den Minima Moralia Kunst als die Aufgabe definiert, Chaos in die Ordnung zu bringen. Ich habe momentan manchmal das Gefühl, dass wir angesichts des gegenwärtigen Chaos gerade vor der Aufgabe stehen, mit den Mitteln der Kunst etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Wir geben Menschen die Gelegenheiten und die Möglichkeiten, sich selbst wieder zu ordnen und zu sortieren. Auch dazu können die Bühnen, können die Orchester und alle Kulturorte des Landes einen wesentlichen Beitrag leisten.
Ich freue mich sehr auf die Arbeit und bin gespannt, was wir miteinander anstellen werden.
Hannover, 21. November 2020
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