Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins: Yevgen Bondarskyy und Ayşe Güvendiren erhalten den Dr. Otto Kasten-Preis 2024
Der Dr. Otto Kasten-Preis wird von der 1962 gegründeten Dr. Otto Kasten-Stiftung getragen. In Zusammenarbeit mit dem Vorstand der Intendant:innengruppe im Deutschen Bühnenverein wird der Preis an herausragende junge Theatermacher:innen vergeben.
Der Dr. Otto Kasten-Preis 2024 wird mit dem Schwerpunkt ERINNERUNGSKULTUR & POLITISCHE BILDUNG vergeben. Ausgezeichnet werden junge Theatermacher:innen, die sich auf innovative Weise oder in besonderen Formaten mit Erinnerungskultur beschäftigen oder sich mit ihrer Theaterarbeit für politische Bildung engagieren.
Die hohe Qualität und Dichte der eingereichten Preisvorschläge hat das Kuratorium der Stiftung dazu bewogen, den Preis im Jahr 2024 zweimal zu vergeben: Preisträger:innen des mit je 5.000 Euro dotierten Preises sind Yevgen Bondarskyy und Ayşe Güvendiren.
Die Themen Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis beschäftigen uns sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in unserer Theaterarbeit. Wir verlieren Zeitzeugen des Nationalsozialismus; die aktuellen Ereignisse in Israel und der Welt, der bevorstehende Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und die Häufung antisemitischer Vorfälle in Deutschland führen zu einer Politisierung von Gesellschaft und Kunst. Angesichts einer gewalttätigen Gegenwart, die von Kriegen, Rechtspopulismus und Geschichtsvergessenheit geprägt ist, wenden sich die Theater und Orchester bewusst den Traumata der Vergangenheit zu.
Wie kann das Theater zum Ort der Erinnerung werden? Und wie zu einem zivilgesellschaftlichen Akteur der Demokratiearbeit? In welchem Verhältnis stehen künstlerische Darstellungsformen zu politischen Positionierungen?
Mit Yevgen Bondarskyy und Ayşe Güvendiren zeichnet die Dr. Otto Kasten-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Intendant:innengruppe im Deutschen Bühnenverein exemplarisch zwei Theatermacher:innen aus, deren Arbeit in diesem Kontext als vorbildlich gelten kann.
Der jüdische Regisseur, Schauspieler und Theaterpädagoge Yevgen Bondarskyy, geboren 1989 in Luhansk, Ukraine, setzt sich mit großer Geduld und Feinfühligkeit mit vulnerablen Spieler:innen auseinander. Für Themen der Erinnerungskultur und die Auseinandersetzung mit aktuellen Kriegstraumata ist diese Fähigkeit von unschätzbarem Wert, denn nur so können diese Themen von genau diesen Menschen dargestellt und auf die Bühne gebracht werden. Hinzu kommt bei Yevgen Bondarskyy ein Sinn für abgründigen Humor, der sich unter anderem in seinen Textentwicklungen niederschlägt. Seine Inszenierungen zeichnen sich durch die mutige Auseinandersetzung mit brisanten Themen und sein Engagement im Bereich der politischen Bildung aus.
In seiner Arbeit „Was tut mir weh... nicht mehr" an den Münchner Kammerspielen bringt er vier ukrainische Jugendliche auf die Bühne, die Geschichten über das Ankommen in einem fremden Land erzählen, aber auch darüber, wie sie die erlebten Traumata verarbeiten und ob sie auf Dauer hier, fern der Heimat, bleiben wollen.
Am Theaterhaus Jena stand er gemeinsam mit Leon Pfannenmüller in der Produktion „Blut", die im Mai 2024 Premiere hatte, auf der Bühne: Die Großväter Bondarskyys und Pfannenmüllers standen sich im Zweiten Weltkrieg als Soldaten auf deutscher und sowjetischer Seite gegenüber. Die beiden Schauspieler machen sich auf die Suche nach ihren Familiengeschichten, stellen Bruchstücke nebeneinander, fragen nach Erinnerung, Verantwortung und Schuld, Patriotismus und nationaler Identität.
In Ayşe Güvendirens überwiegend dokumentarischen Theaterarbeiten, die meist das Ergebnis aufwendiger, langwieriger und präziser Rechercheprozesse sind, steht das Thema Erinnerung im Mittelpunkt: An wen wird erinnert, an wen nicht? Wann wird Erinnerung politisch?
Ayşe Güvendiren schafft Gedenkanlässe bzw. Erinnerungsräume für jene Menschen, deren persönliche Geschichten in der Geschichtsschreibung dieses Landes oft keine oder kaum Beachtung finden. Zentrale Fragen dabei sind: Wer spricht und wer wird gehört? Die Erinnerung an Marginalisierte und Vergessene, an Verstummte und Stummgemachte, an Opfer rechter und/oder rassistischer Gewalt erhält einen besonderen, theatralen Ort.
Wie kann den Geschichten der Betroffenen mehr Raum gegeben werden? Wie können Allianzen zwischen Opfern, ihren Angehörigen und der „Mehrheitsgesellschaft" über Raum und Zeit hinweg entstehen? Wann wird Erinnerung politisch und wie wird sie instrumentalisiert? Wie können öffentliche Räume umgestaltet und anders besetzt werden, damit die Aufgabe und Herausforderung des Erinnerns nicht nur den Betroffenen und einigen wenigen Verbündeten überlassen bleibt? Und wie gehen wir mit jenen um, die sich gegen das Erinnern entscheiden?
Ein Beispiel für diesen künstlerischen Ansatz ist der Theaterabend „Als wäre es gestern gewesen", der 2023 am Nationaltheater Mannheim entstand und auf den realen Geschichten und Erzählungen von Menschen basiert, die Angehörige durch rechte und auch staatliche Gewalt verloren haben. Die Familien, die die Regisseurin für ihr Projekt gewinnen konnte, steuerten neben ihren persönlichen Erzählungen auch Lieder bei, die für die Verstorbenen eine besondere Bedeutung hatten oder den Angehörigen Trost spendeten.
Ayşe Güvendiren, 1988 in Wien geboren und in München aufgewachsen, hat sich erst relativ spät für das Theater entschieden. Nach einem fast abgeschlossenen Jurastudium wechselte sie die Fachrichtung und studierte Regie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Mit ihrer Abschlussinszenierung „R-Faktor. Das Unfassbare", einem satirischen Abend über Rassismus im Kulturbetrieb, der auf Interviews mit Betroffenen basiert, gewann sie das Körber Studio Junge Regie 2021 und inszenierte seitdem u.a. am Schauspiel Hannover, den Münchner Kammerspielen, dem Stadttheater Gießen und dem Nationaltheater Mannheim.
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